Kapitalschutzvorschriften im OR

Bei knappem Eigenkapital ist der Verwaltungsrat in der Verantwortung

© Johannes Plenio

Die Kapitalschutzvorschriften im Obligationenrecht (OR) dienen dem Schutz der Allgemeinheit, der Gläubiger, der Aktionäre und der Gesellschaft selbst. Sie fordern rechtzeitiges Reagieren durch das oberste Leitungsorgan. Gerät ein Unternehmen in finanzielle Schieflage, hat der Verwaltungsrat gemäss OR verschiedene und weitreichende Handlungspflichten. Dies gilt ebenso für die Organe einer GmbH oder Genossenschaft. Wir zeigen kurz auf, was die zentralen Aufgaben und Pflichten sind, um Haftungsrisiken zu minimieren – und einen Ausblick auf bevorstehende Änderungen.

Kapitalverlust: Sanierungsmassnahmen einleiten

Sobald die letzte Jahresbilanz der Gesellschaft einen Kapitalverlust mit gesetzlichen Folgen aufzeigt, hat der Verwaltungsrat nach Art. 725 Abs. 1 OR unverzüglich eine Generalversammlung einzuberufen und ihr Sanierungsmassnahmen zu beantragen. Ein solcher Kapitalverlust liegt dann vor, wenn die kumulierten Verluste das Aktienkapital und die gesetzlichen Reserven mindestens zur Hälfte (aber noch nicht vollständig) aufgezehrt haben.

Der Verwaltungsrat kann der so genannten Sanierungsversammlung insbesondere folgende Massnahmen vorschlagen:

  • Kapitalherabsetzung (evtl. mit gleichzeitiger Kapitalerhöhung «Harmonika»)
  • Kapitalerhöhung (mit Mittelzufluss oder durch Verrechnung von Fremdkapital)
  • À fonds perdu-Zuschüsse
  • Forderungsverzichte
  • Verkauf von Aktiven (betriebsnotwendig oder betriebsfremd)
  • Sanierungsfusion

Ausserdem kann der Verwaltungsrat als bilanzielle Sanierungsmassnahme allfällige stille Reserven auflösen oder nach Art. 670 OR Grundstücke oder Beteiligungen über die Anschaffungskosten hinaus aufwerten. Vorsicht: Mit diesen Massnahmen wird zwar das ausgewiesene Eigenkapital erhöht, sie verbessern aber nicht die Liquiditätssituation und tragen damit auch nicht zur finanziellen Gesundung der Gesellschaft bei. Es empfiehlt sich, Expert*innen beizuziehen, um eine nachhaltige Sanierung einzuleiten.

Besteht unter dem Jahr begründete Besorgnis, dass ein Kapitalverlust vorliegt, ist der Verwaltungsrat verpflichtet, eine Zwischenbilanz zu erstellen. Er darf also nicht bis zum Vorliegen des Jahresabschlusses zuwarten. Die Sanierung nach Art. 725 Abs. 1 OR kann noch ohne Mitwirken des Richters oder der Gläubiger abgewickelt werden. Anders sieht es aus, wenn eine Überschuldung vorliegt.

Überschuldung: Richter benachrichtigen

Bei begründeter Besorgnis einer Überschuldung muss der Verwaltungsrat nach Art. 725 Abs. 2 OR eine Zwischenbilanz erstellen und diese einem zugelassenen Revisor zur Prüfung vorlegen. Eine Überschuldung liegt vor, wenn die Aktiven das Fremdkapital nicht mehr decken und folglich kein Eigenkapital mehr vorhanden ist.

Ergibt sich aus der Zwischenbilanz, dass die Forderungen der Gesellschaftsgläubiger weder zu Fortführungs- noch zu Veräusserungswerten gedeckt sind, so hat der Verwaltungsrat den zuständigen Richter zu benachrichtigen. Dieser entscheidet sodann über das weitere Prozedere (sofortige Konkurseröffnung oder Konkursaufschub bzw. Nachlassverfahren auf Antrag des Verwaltungsrates). Dies trifft zu, sofern nicht Gesellschaftsgläubiger im Umfang von mindestens der Überschuldung im Rang hinter alle anderen Gläubiger zurücktreten (Rangrücktritt). Es ist anzumerken, dass das reine Ausstellen eines Rangrücktritts durch einen Gesellschaftsgläubiger keine Sanierungsmassnahme darstellt. Er verhindert lediglich den Gang zum Richter.

Sollte der Verwaltungsrat trotz Kenntnis der Überschuldung den Richter nicht benachrichtigen oder es versäumen trotz deutlichen Hinweisen auf eine Überschuldung keine Zwischenbilanz zu erstellen, haften die Mitglieder des Verwaltungsrates nach Art. 754 OR persönlich für den gesamten Schaden, der den Gläubigern der Gesellschaft oder Aktionären entsteht.

Um seine Pflichten zu erfüllen und Haftungsrisiken zu minimieren, muss der Verwaltungsrat die finanzielle Lage sowie die Eigenkapitalsituation der Gesellschaft laufend überwachen, allfällige Sanierungsmassnahmen rechtzeitig ergreifen, Handlungspflichten einhalten und seine Analysen und Schlussfolgerungen sorgfältig dokumentieren.

Behandlung von COVID-19-Krediten: Manövrierraum bis März 2022

Im Zuge der Corona-Pandemie hat der Gesetzgeber das Solidarbürgschaftsgesetz und die entsprechende Verordnung erlassen. Nach Art. 24 der COVID-19-Solidarbürgschaftsverordnung müssen gewährte Kredite bis zu CHF 500’000 für die Berechnung von Kapitalverlust und Überschuldung nach Art. 725 OR nicht als Fremdkapital berücksichtigt werden. Diese vorübergehende Erleichterung gilt noch bis zum 31. März 2022. Sie gibt Gesellschaften kurzfristig zusätzlichen Manövrier-Raum bis die Rechtsfolgen von Art. 725 OR ausgelöst werden. Ab dem 1. April 2022 sind die Kredite wieder als Fremdkapital und damit in der Berechnung von Kapitalverlust und Überschuldung zu berücksichtigen.

Neues Aktienrecht: Zusätzliche Handlungspflichten

Voraussichtlich 2023 tritt das neue Aktienrecht in Kraft. Es verfügt, dass der Verwaltungsrat neu auch im Falle drohender Zahlungsunfähigkeit mit gebotener Eile Massnahmen zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit und zur Sanierung ergreifen muss. Damit wird zukünftig die Liquiditätsplanung neben der Eigenkapitalüberwachung zentral und Handlungspflichten tendenziell bereits früher auslösen.

Das Ergreifen und die Umsetzung notwendiger Sanierungsmassnahmen sowie das Erfüllen der Kapitalschutzvorschriften gemäss Obligationenrecht bedarf vermehrt Spezialkenntnissen. Gerne stehen wir Ihnen als Partner beratend zur Seite.

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